Wie bewältige ich Trauer? 8 Mythen rund um das Thema Trauer, Tod und Sterben - Teil 1
Feb. 5, 2022
Ich möchte dazu beitragen, den Vorhang ein wenig beiseitezuschieben und das Thema Trauer sichtbar zu machen. Einen Beitrag dazu leisten, dass sich Menschen diesem Thema ohne (oder zumindest mit weniger) Angst widmen können. Dass Sie nicht verlegen schweigen, wenn Ihnen ein trauernder Mensch gegenübersteht, oder Sie sich im schlimmsten Fall überfordert fühlen, wenn Sie merken, dass Sie plötzlich selbst traurig werden. Und vor allem möchte ich dazu beitragen, dass Trauernde nicht noch zusätzliches Leid oder Druck erfahren müssen.
Trauer ist immer sehr individuell. Es gibt keine Schablone, die auf jeden Menschen passt. In unserer Gesellschaft haben sich allerdings Gebräuche und innere Glaubenssätze etabliert, die es manchen Menschen ganz schön schwer machen, zu trauern.
Es gibt sehr viele verschiedene Arten und Gebräuche. Wenn in unseren Breitengraden meist noch das Weinen und das Tragen von schwarzer Kleidung als "richtiges" Trauern angesehen wird, so gilt in Japan zum Beispiel die Farbe Weiß als Trauerfarbe. Zu verschiedensten Trauerritualen wird es aber einen eigenen Blog geben. Heute widmen wir uns den gängigsten "Vorurteilen".
1. Mythos - Große Gefühlsausbrüche
Es wird fälschlicherweise angenommen, dass eine Trauerreaktion immer mit einem großen Gefühlsausbruch einhergeht. Ja, es kann sein - muss aber nicht. Wenn jemand zum Beispiel nicht gleich in Tränen ausbricht, wenn er vom Tod eines geliebten Menschen erfährt, wird es von manchen in unserer Gesellschaft als "nicht normal", "kalt" oder sogar als "krank" angesehen.
Die Trauerforschung bestätigt jedoch, dass nicht alle Menschen den Schmerz des Verlustes gleich intensiv verspüren. Und nicht für jede:n ist das Weinen wichtig. Nur weil Außenstehende keine deutliche Reaktion sehen, bedeutet das nicht, dass der Mensch nicht trauert! Auch der Zeitpunkt kann sehr unterschiedlich sein. Manche Menschen weinen oder zeigen Trauergefühle erst beim Begräbnis oder bei der Verabschiedung. Manche erst später oder sie zeigen die Emotionen nur, wenn sie allein sind. Einige Menschen weinen auch gar nicht, sondern verändern ihr Verhalten: schwelgen in Erinnerungen, sind stiller als sonst oder lauter als üblich. Auch das ist ein Ausdruck von Trauer.
Wie trauere ich richtig? Viele Trauernden glauben leider, mit Ihnen sei etwas nicht in Ordnung, wenn sie nicht weinen oder unmittelbar nach dem Verlust nicht tief betroffen sind. Es ist in Ordnung wenn diese Reaktionen ausbleiben. Genauso wie das Weinen und alle Reaktionen dazwischen in Ordnung sind.
Es gibt nämlich noch mehr Trauerreaktionen oder Trauergefühle als das Weinen. Zum Beispiel Wut, Angst, Ärger, Scham oder Sehnsucht. Oftmals sind die Hinterbliebenen gar nicht in der Lage ihre Gefühle (bewusst) zu erleben. Die Wahrnehmung fehlt manchmal gänzlich. Auch das ist ok. Auch Lachen kann eine (Trauer)Reaktion sein. Sie wird nur gesellschaftlich nicht akzeptiert und belastet somit die Trauernden zusätzlich.
Trauer ist immer individuell. Immer. Auch wenn man selbst schon mehrere Verluste erlebt hat, es läuft nie gleich ab. Es kann von "ein wenig betroffen" bis zum "kompletten psychischen Ausnahmezustand" alles sein. Und alles davon ist ok.
2. Mythos - Keine Freude mehr empfinden
Manche Menschen empfinden (zumindest für eine Zeit) keine Freude mehr nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Doch leider erlauben sich manche Menschen auch nicht mehr Freude zu empfinden. Bedauerlicherweise steckt oftmals die Annahme dahinter "Das gehört sich nicht!" oder "Ich darf doch nicht lachen, xy ist tot." Nicht selten fühlen sich Hinterbliebene schuldig und äußern Sätze wie zum Beispiel "Wie kann ich nur Freude empfinden, wenn er:sie jetzt nicht mehr da ist? Das ist doch nicht normal."
Es sind die kulturellen und gesellschaftlichen Normen, die dafür sorgen, dass Menschen manchmal ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie neben der ganzen Trauer auch lustige Momente haben. Verlusterfahrungen führen nicht zwangsläufig dazu, dass sich die Fähigkeit, Freude zu empfinden verringert! Freude zu empfinden, schließt die Trauer nicht automatisch aus.
3. Mythos - Trauerarbeit heißt eine Liste abzuarbeiten
Manche Menschen glauben, man müsse nur eine Liste abarbeiten und dann ginge es einem wieder gut. Über sein Leben, seine Ziele, Wünsche und Bedürfnisse zu reflektieren oder sich mit Veränderungen zu beschäftigen ist grundsätzlich sehr sinnvoll und hilfreich für sein eigenes Leben.
Den Begriff Trauerarbeit finde ich persönlich jedoch irreführend. Es impliziert für manche Menschen, dass man sich bewusst mit den schmerzhaften Trauergefühlen und Gedanken auseinandersetzen muss. Sie sozusagen abarbeiten muss.
Die Forschung hat hier unterschiedliche Meinungen und Ansätze. Ein Ansatz zum Beispiel ist, dass es die gesunde Mischung ausmacht. Ein stetiger Wechsel zwischen bewusster Trauer und einer Orientierung auf neue Lebensziele. Kinder können dafür hervorragende Vorbilder sein. Es ist aber auch ganz natürlich, dass man sich selbst von der Trauer ablenkt. Mit Hobbies, dem Alltag, Arbeit, Netflix oder Computerspielen. Der Blick in die Zukunft ist genauso wichtig wie die Beschäftigung mit dem Verlust. Auch hier ist es aber wieder sehr individuell.
Natürlich gibt es tatsächlich auch Menschen, die die Trauer bzw. den Schmerz über längere Zeit hinweg wegdrücken, vermeiden oder negieren. Ebenso gibt es Menschen, die den Tod nicht akzeptieren und sich eine Illusion aufrechterhalten. Hier sind auf jeden Fall professionelle Hilfe und auch eine Konfrontation sinnvoll!
Manchen Menschen gibt der Begriff "Trauerarbeit" aber auch Sicherheit und Struktur. So fühlen sie sich handlungsfähig und haben eventuell etwas weniger das Gefühl "der Situation ausgeliefert zu sein".
4. Mythos - Trauer verläuft in Phasen
Es gibt verschiedenste Trauermodelle. Diese beschreiben, dass Trauer in gewissen Phasen abläuft. Das bekannteste ist zum Beispiel das Phasen-Modell der Trauer von Elisabeth Kübler-Ross, einer Psychiaterin. Nach diesem Modell läuft die Trauer in folgenden Phasen ab: Verleugnung, Wut, Verhandlung, Depression und Akzeptanz.
Es ist jedoch Vorsicht geboten bei solchen Trauermodellen! Manchen Menschen helfen diese Trauermodelle. Sie können sich "an ihnen festhalten", andere wiederum fühlen sich unter Druck gesetzt. Dem Helfenden können sie mitunter eine völlig falsche Vorstellung vermitteln, wie zum Beispiel Trauer oder die Bewältigung der Trauer zu verlaufen hat. Alle Trauermodelle können im besten Fall nur als kleine Orientierungshilfe dienen, dürfen aber nie als die einzige Wahrheit angesehen werden.
Es gibt keinen linearen Verlauf, an dessen Ende dann die Akzeptanz steht. Oftmals verläuft die Trauer eher wie eine Kurve. Die verschiedenen Gefühle wechseln sich rasch ab oder kehren wie in einer Schleife abwechselnd wieder. Abgesehen von der Trauer um die:den Verstorbene:n spielen auch noch die eigenen Themen und die aktuellen Lebenssituationen der Hinterbliebenen eine wichtige Rolle, wie mit der Trauer umgegangen wird.
5. Mythos - Kinder sollten vom Thema Tod und Trauer geschützt werden
Wenn man Kinder anlügt, ihnen wenig oder fast gar keine Informationen zukommen lässt bei einem Todesfall in der Familie, dem Kindergarten, der Schule oder im Freundeskreis, nimmt man den Kindern die Möglichkeit zu lernen, mit einem Verlust umzugehen. Abgesehen davon schädigt es das Vertrauen und im schlimmsten Fall auch den Selbstwert des Kindes. Kinder sind von Natur aus sehr feinfühlig.
Kinder spüren immer, wenn etwas nicht stimmt. Wenn die Erwachsenen bei Ihren Verharmlosungen oder sogar Lügen bleiben, so kommt das Kind zu dem Entschluss "Ich darf meinem Bauch nicht trauen." oder "Mein Gefühl ist falsch." oder "Ich bin nicht richtig!". Dies kann weitreichende Folgen auch noch ins Erwachsenenalter haben.
Viel besser ist es offen und ehrlich mit den Kindern zu sprechen. Dem Alter entsprechend natürlich. Am besten spricht jemand mit ihnen, der eine gute und nahe Beziehung zu ihnen hat. Vorsicht mit Sprüchen wie "Der Opa schläft jetzt." oder "Die Oma sitzt jetzt auf einer Wolke und wartet dort auf dich". In einem anderen Blog werde ich näher darauf eingehen. Bei aktuellen Fragen rufen Sie mich einfach an.
Antworten Sie ehrlich auf die Fragen der Kinder. Eine Antwort auf die Frage "Wo ist denn der Papa jetzt?" könnte auch lauten: "Ich weiß es nicht. Was glaubst denn du, wo er jetzt ist?" Nehmen Sie die Gefühle und die Antwort des Kindes ernst. Sie müssen nicht stark sein für Ihr Kind. Sie könne auch gemeinsam mit Ihrem Kind weinen.
Kinder trauern oftmals ganz anders als Erwachsene. Sie brechen zum Beispiel mitten beim Essen oder Spielen in Tränen aus, stellen vielleicht eine Frage, die sie gerade beschäftig und spielen fünf Minuten später wieder fröhlich lachend mit ihrem Spielzeug. Auch das ist ok!
6. Mythos - Nach einem Jahr ist die Trauer überstanden
Trauer kann nicht an einer gewissen Zeitachse festgemacht werden. Dennoch hält sich das Gerücht sehr hartnäckig, dass nach einem Jahr die Trauer vorbei sei oder überstanden sein müsse. Das sogenannte Trauerjahr ist eine gesellschaftliche Norm und hat sehr wenig mit der tatsächlichen Trauer zu tun.
Wenn der Ehepartner oder das gemeinsame Kind stirbt, kann es mitunter Jahre dauern, bis der Trauernde den Verlust integriert hat. Manchmal dauert es Jahrzehnte und manche Menschen trauern ein Leben lang.
Gut gemeinte Sätze helfen nicht. Wie schon oft geschrieben, ist aber gerade bei der Zeit nochmal zu betonen, dass Trauer individuell ist! Sie hat sehr viele Gesichter. Deshalb ist auch im Umgang mit Trauernden eine Aussage über die Zeit zu treffen eher verletzend als hilfreich. Verkneifen Sie sich Aussage wie "Die Zeit heilt alle Wunden..." oder "Nächstes Jahr wird es besser...".
Es gibt verschiedenste Studien zum Thema Trauerzeit. Wenn Ihnen eine Studie unterkommt, in der das "Trauerjahr" propagiert wird, bedeutet dies jedoch nicht, dass der ganze Prozess in diesem Jahr abgeschlossen ist. Am ehesten könnte man dies so interpretieren, dass das erste Jahr das Schlimmste ist.
Andere Studien beschreiben wiederum, dass nach etwa vier bis 7 Monaten eine langsame Besserung eintritt und man sozusagen den Höhepunkt des Schmerzes hinter sich hat, der ganze Trauerprozess aber noch bis zu zwei Jahre dauern kann. Auch hier wieder: Achtung! Das kann auf einen zutreffen, muss (!) aber nicht.
Gesellschaftlich wird mit dem Trauerjahr auch ein wenig Druck auf die Hinterbliebenen ausgeübt. Manche Menschen haben das Gefühl, dass sie nach ein paar Monaten nicht mehr über den Verlust sprechen dürfen. Sie möchten sich anderen Menschen nicht zumuten. Sie haben Angst "zu viel" und "zu anstrengend zu sein".
7. Mythos - Ich muss den Verstorbenen loslassen
Beim Thema "Loslassen" gibt es generell sehr viele unterschiedliche Auffassungen und Interpretationen. Gerade bei der Trauer wird dadurch auch oft eine Art von "Druck" erzeugt, da lange Zeit die Meinung galt, dass die Hinterbliebenen den Trauerprozess nur gesund abgeschlossen haben, wenn sie keine Bindung mehr zur verstorbenen Person haben. Der Mensch an sich strebt jedoch generell nach einer Form der Bindung, das schließt auch die Toten mit ein. Wichtig ist es nur, dass die Bindung auf eine gesunde Art und Weise geschieht.
Wenn ein Mensch stirbt, heißt das nicht, dass die Beziehung vorbei ist, sondern dass sie neu definiert werden muss. Die gemeinsame Zeit mit der verstorbenen Person in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren, das ist die Aufgabe der Hinterbliebenen. Ebenso der Vergangenheit und dem:der Verstorbenen einen für sich selbst richtigen Platz zu geben und das neue Leben, ohne die Person, zu akzeptieren und anzuerkennen.
Diese Neudefinition der Beziehung ist auch ein Schutz und eine Notwendigkeit um nach einer Zeit (die vollkommen individuell ist!) sein Leben wieder vorwärts auszurichten zu können und wieder positiv in die Zukunft zu blicken.
8. Mythos - Trauer ist nur bei einem geliebten Menschen ok
Nein. Definitiv Nein. Trauer ist ein Gefühl und oft führt dieser Mythos dazu das Gefühle unterdrückt werden. Dies hart mitunter weitreichende Folgen. Unser Immunsystem wird schwächer und wir werden anfälliger für Infekte. Darüber hinaus können unterdrückte Gefühle körperliche Stressreaktionen aller Art auslösen: erhöhten Bluthochdruck, Diabetes, Herzerkrankungen, Nierenschäden, Magenprobleme, Kreuzschmerzen und andere Verspannungen. Ebenso können unterdrückte Gefühle zu Depressionen führen oder zu ungesunden Handlungen gegenüber sich selbst oder anderen Personen.
Es gibt eine Vielzahl von Gründen, die das Gefühl der Trauer auslösen: Ein Jobverlust, der Tod eines geliebten Haustieres, ein Umzug in eine andere Wohnung oder eine andere Stadt. Jeder Grund hat (auch die hier nicht aufgeführten) seine Berechtigung und ist echt für die Betroffenen.
Leider halten sich die Mythen hartnäckig in unserer Welt. Doch wen wundert es? Es spricht ja kaum jemand über den Tod, das Sterben oder die Trauer. Was alle Mythen gemein haben ist, dass immer davon ausgegangen wird, dass es eine richtige Art der Trauer gibt. Ich hoffe, ich konnte mit diesem Blog ein wenig Bewusstsein schaffen, dass dem nicht so ist.
Trauer und dessen Bewältigung ist so unterschiedlich wie wir Menschen selbst. Manche Menschen trauern lange, manche kurz. Andere wiederum allein für sich oder in der Gruppe. Manche Menschen trauern sehr intensiv, andere wieder nicht. Alles ist in Ordnung.
Wichtig ist nur, dass wir dies auch für uns selbst anerkennen und uns nicht einreden lassen, dass es falsch ist, wie wir trauern. Es ist in Ordnung an keinem sogenannten Leichenschmaus teilzunehmen oder nicht in die Kirche zu gehen, wenn man dies nicht will. Egal ob gläubig oder nicht.
Es ist in Ordnung mit den Traditionen und Gebräuchen zu brechen, wenn es einem guttut. Genauso ist es in Ordnung an Gebräuchen oder Ritualen festzuhalten. Für den:die Einzelne:n, darf es aber nie ein "muss" oder "das macht man halt so" geben! Wir Hinterbliebenen müssen einen Weg finden mit dem Verlust und der Trauer umzugehen. Und jeder Mensch hat das Recht das so zu machen, wie er:sie es will, unabhängig von den gängigen Gebräuchen, Gepflogenheiten oder der Gesellschaft, in der er:sie gerade lebt.
Nach wie vor wird Trauer erschwert, weil die vermeintlichen Bewertungen und Vorstellungen einen zusätzlichen Druck in einer ohnehin schwierigen Ausnahmesituation schaffen. Gesellschaftliche Rituale und Gebräuche mögen manchen Menschen helfen und es erleichtern Gefühle zu verarbeiten oder gar zu fassen. Sie dürfen aber nie als die einzige Wahrheit gelten, oder gar vorgegeben oder bewertet werden.
Sprechen wir daher darüber. Über die Mythen, die eigenen Gedanken und Gefühle zu diesem Thema. Schieben wir gemeinsam den Vorhang zur Seite. Denn eines ist ganz klar, irgendwann in unserem Leben sind wir auf jeden Fall davon betroffen - von der Trauer, dem Sterben und dem Tod. Und wir werden dann unseren eigenen Weg finden, damit umzugehen. Und er wird in Ordnung sein.
Herzlichst
Nadja Mack-Foraschik
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